Programm der Sektion „Außenseiter*innen, Randgruppen und andere Unsichtbare“

Am 22.-23.9.2020 veranstalten wir auf dem Deutschen Archäologiekongress eine Sektion zum Thema „Außenseiter*innen, Randgruppen und andere Unsichtbare“. Zusätzlich haben wir uns auch mit der AG Wissenschaftsgeschichte abgestimmt, die zum Thema „Inklusion in der Archäologie“ ebenfalls eine Sektion veranstalten. Aufgrund der COVID-19-Pandemie wird der Archäologiekongress digital stattfinden (Details folgen).

Foto: luckyfotostream/Flickr

Programm (auch hier zum downloaden)

Dienstag, den 22.09.2020

Einführung

09:30 Uhr • Organisator*innen AG TidA •  Einführung: Außenseiter*innen, Randgruppen und andere Unsichtbare

10:00 Uhr •  Kaffeepause

Positionen: Forschungen & Theorien

10:30 Uhr • Thomas Meier • Evidenz und Empirie als Techniken des Unsichtbarmachens
11:00 Uhr • Jan-Eric Schlicht • Unter Zahlen vergraben? Quantitative Archäologie und die Frage der Unsichtbarkeit
11:30 Uhr • Anna-Katharina Rieger • The Socio-Spatial Conundrum – Or How to Get Away From the Margins?

Forschungen: (Un)Sichtbarkeiten

12:00 Uhr • Simone Arnhold • (Un-)Sichtbarkeit unkonventioneller Bestattungen

12:30 Uhr • Mittagspause / Mitgliederversammlung der TidA

14:00 Uhr • Frank Siegmund • Unsichtbar zwischen Hofherrinnen und Kriegern: beigabenlose Bestattungen im frühen Mittelalter
14:30 Uhr • Melanie Augstein • Unscharfe Relationen – Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit als Strategien visueller Kommunikation im Kontext hallstattzeitlicher Gräberfelder
15:00 Uhr • Philomena Over • Die Hapiru – Revolutionäre oder Terroristen? Sozialarchäologische Betrachtung der „Hapiru“ in der spätbronzezeitlichen Levante

15:30 Uhr • Kaffeepause

16:00 Uhr • Andrea Binsfeld & Agnes Thomas • Allgegenwärtig und doch unsichtbar? Sklaverei im Spiegel der archäologischen Quellen
16:30 Uhr • Ulrich Müller • Rebellionen – materielle (Un-)Sichtbarkeiten zwischen Befunden und Interpretationen
17:00 Uhr • Martin Renger & Stefan Schreiber • Das menschliche und nicht-so-menschliche Andere? Ausgrenzungsregime als ein Effekt gesellschaftlicher Ordnung und Resilienz

Mittwoch, den 23.09.2020

Forschungen: (Un)Sichtbarmachungen

09:00 Uhr • Yvonne Burger • Das vergessene Lager. Archäologische Untersuchungen im ehemaligen Lager Gunskirchen, ein Außenlager des Konzentrationslagers Mauthausen
09:30 Uhr • Patrick Hillebrand • Alltagsgegenstände aus ehemaligen Konzentrationslagern – Materielle Hinterlassenschaften als objektiverer Zugang zum Häftlingsalltag. Alltag, Häftlingsgesellschaft, Materielle Kultur

10:00 Uhr • Kaffeepause

10:30 Uhr • Laura Rindlisbacher, Elias Flatscher, Norbert Spichtig & Sandra L. Pichler • „Eine Totenhalle für Lebendige“? Ein Blick in die Lebensbedingungen einer frühneuzeitlichen Irrenanstalt anhand des Bestattungskollektivs aus dem Kreuzgarten des Basler Barfüsserklosters
11:00 Uhr • Nikolai Shcherbakov & Iia Shuteleva • Bioarchaeological Methods as a Marker of Social Inequality in Late Bronze Age Societies of the Southern Urals
11:30 Uhr • Henriette Baron • Gewidmet all den Kreaturen, die nie Wertschätzung erfuhren

Forschungsstrukturen und Wissenschaftskommunikation

12:00 Uhr • Kerstin P. Hofmann, Christina Sanchez-Stockhammer & Philipp W. Stockhammer • Sollen wir den Knochen einen Namen geben? Zu Praktiken der (De-)Personalisierung und Objektifizierung prähistorischer Menschen

12:30 Uhr • Mittagspause

14:00 Uhr • Julia K. Koch • Von der Ausnahme zur Normalität. (Bald) 150 Jahre Frauen in der Archäologie Schleswig-Holsteins
14:30 Uhr • Florian Martin Müller • Laienforschung und/gegen Fachwissenschaft – Die archäologischen Ausgrabungen in der Römerstadt Aguntum in Osttirol 1912/13
15:00 Uhr • Kristin Oswald • Abseits von Fan Boys and Girls. Minderheiten in der Archäologiekommunikation

15:30 Uhr • Kaffeepause

16:00 Uhr • Abschlussdiskussion & Fazit

Abstracts

Thomas Meier • Evidenz und Empirie als Techniken des Unsichtbarmachens

Evidenz und Empirie gelten als Verfahren, Annahmen in Wahrheiten zu überführen. Sie tun dies durch einen Gestus des Sichtbarmachens, der in besonderer Weise den Sehsinn privilegiert. Dieser Wahrheitsgestus schließt zunächst an Metaphern der Aufklärung an, vor allem aber an das religiöse Motiv der Offenbarung. Von dort ergeben sich Bezüge zur Phänomenologie („Es zeigt sich …“). Auch die aktuelle Welle empirischer Begeisterung nicht zuletzt in der Archäologie ist ohne den Hype des „new“ materialism“ nicht denkbar, der sich zuweilen auch als „new realism“ überhöht. Dabei gerät aus dem Blick, dass die gesellschaftliche Entscheidung für einen „Wahrmacher“ immer auf Konventionen beruht und insofern zwar konventionell, argumentationslogisch aber arbiträr ist. Empirie und Evidenz und die mit ihnen implizit vorausgesetzte Objektivität des Materiellen machen das sichtbar und wahr, was zuvor grundsätzlich in sie hineingelegt worden ist. Alles andere bleibt notwendig unsichtbar – was soweit banal ist und auf alle Konzepte und Theorien zutrifft. Während diese Ein- und Ausblendungseffekte bei vielen Theorien jedoch explizit gemacht werden, haben Evidenz und Empirie inzwischen den Status sedimentierter Unhinterfragbarkeiten erreicht, so dass ihre Ausblendungseffekte selbst nicht mehr sichtbar sind. Sie werden dadurch zu mächtigen Werkzeugen, alles in die Unsichtbarkeit zu verschieben, was das eurozentrische und technizistische Weltbild, das der Empirie zu Grunde liegt und dem sie dient, verstört.

Jan-Eric Schlicht • Unter Zahlen vergraben? Quantitative Archäologie und die Frage der Unsichtbarkeit

Ein Bewusstsein um die ethische Verantwortung gegenüber der Vergangenheit äußert sich – völlig zurecht – in zunehmendem Maße auch in der gezielten Forderung der Sichtbarmachung von Marginalisierten, Unsichtbaren und/oder auch Außenseiter*innen in der archäologischen Erforschung vergangener Lebenswelten. Bereits im ersten Satz des Call for Papers für diese Session – „Archäologie basiert auf empirischen Sichtbarkeiten – nur was in den Blick gerät, gilt als evident.“ – wird dabei ein Umstand angesprochen, welcher insbesondere mit Blick auf die vielfältig und zahlreich angewandten quantitativen Methoden vieler archäologischer Studien echter Reflexion bedarf. In der Tat neigen viele dieser Methoden zur Produktion von Unsichtbarkeiten, sei es durch die Berechnung von Mittelwerten, der Entwicklung von Idealtypen oder zum Beispiel der Auslassung ausgegrenzter Individuen in agentenbasierten Modellen aus verfahrenstechnischen Gründen. In dieser Hinsicht fällt es nicht schwer solche Anwendungen zu kritisieren oder mitunter sogar prinzipiell in Frage zu stellen. Doch sollte in diesem Fall nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werden, denn entgegen einem häufig gewonnenen Eindruck – sowohl von Kritiker*innen als auch einigen Anwender*innen – produzieren quantitative Methoden keine Wahrheiten, sondern interpretierbare Muster. Und zwar solche Muster, welche ohne diese Methoden niemals gefunden werden könnten. Die Reduktion quantitativer Ansätze auf theorieleere Algorithmen verfehlt grundsätzlich die Absicht und das Potential ebenjener Methoden, welche überdies bedeutende Weiterentwicklungen und Erweiterungen, zum Beispiel im Bereich der Komplexitätsforschung erfahren und erfahren haben. Folglich sollen in diesem Beitrag Überlegungen zu Chancen und Beschränkungen quantitativer Ansätze, explizit auch im Hinblick auf Marginalisierungen, Unsichtbarkeiten und Ausgrenzungen angestellt werden.

Anna-Katharina Rieger • The Socio-Spatial Conundrum – Or How to Get Away From the Margins?

Social network approaches adapted to historical and archaeological research seem to be suitable to better define social positions of individuals or groups. However, there remains a certain unease about how to relate such social positioning to positions and locations in space. Moreover, the quantification of connectedness or centrality lacks a spatial dimension and entails also marginalization. When it comes to the question of inside or outside, of emic or etic, of inclusive or exclusive to be reconstructed from archaeological sources, the question about the options to correlate space and the social becomes even more virulent.
In my paper I firstly outline that the localization of the social is immanent in any archaeological finding from a site and a time. I then move to the question of ascriptions, of how a social and/or spatial position of the finding is described (in/out, marginal/central). To pin down the deficits of labels and attributions, I compare material from the desert fringes in NW-Egypt to material from the Negev – ecologically marginal zones with socially marginalized inhabitants. Finally, I come to the advantages of a bottom-up view onto material culture to make archaeological objects operate as historical source; an objective evaluation is neither achieved nor required, and ascriptions as “marginal” are related to a spatially or socially emic or etic standpoint, that has to be clarified. Consequently, the characteristic openness of archaeological material for ascriptions should train us in making such steps of interpretation recognizable.

Simone Arnhold • (Un-)Sichtbarkeit unkonventioneller Bestattungen

Die mittlere Bronzezeit wird vielfach mit der Niederlegung reicher Bronzegegenstände in Gräbern verbunden und liefert somit zahlreiche Möglichkeiten der Datierung und Interpretation. Neben der Hügelgräberkultur charakterisiert dies auch eine Regionalgruppe im östlichen Niedersachsen, die sogenannte Lüneburger Gruppe. Ihre Bearbeitung orientierte sich bislang vor allem an der großen Zahl bronzener Artefakte, die vorrangig auf Altgrabungen zurückgehen und damit die eigentlichen Bestattungssitten in den Hintergrund drängen.
Dabei werden nicht nur die Niederlegungspraktiken außer Acht gelassen, sondern auch das Phänomen bi-ritueller Bestattungen nicht erwähnt, was sich sehr gut am Grabhügelfeld von Wetzen, Ldkr. Lüneburg, illustrieren lässt. Hier wurden in mindestens einem Körpergrab auch eine Brandbestattung niedergelegt und in einem anderen (Brand-)Grab zwei Leichenbrände miteinander vermischt. Gerade letzteres setzt eine anthropologische Bestimmung voraus, deren Unterlassen de facto die Erkenntnis des vorliegenden Befundes negiert und eine adäquate wissenschaftliche Bearbeitung und Interpretation des Befundes verhindert.
„Sie fanden, was sie suchten“ bezieht sich in diesem Fall vor allem auf die Kenntnis bestimmter Niederlegungspraktiken in der späten mittleren Bronzezeit und verknüpft eine entsprechende Kontextualisierung an die Notwendigkeit anthropologischer Bestimmungen. Das Gräberfeld von Wetzen zeigt, dass normatives Vorgehen bei der Bearbeitung des Sichtbaren zumindest teilweise das Unsichtbare, in diesem Fall eine Doppelbestattung in einer Grabgrube, nicht erfasst und damit eine Deutung des Befundes a priori ausschließt.

Frank Siegmund • Unsichtbar zwischen Hofherrinnen und Kriegern: beigabenlose Bestattungen im frühen Mittelalter

Die Frühmittelalterarchäologie beschäftigt sich intensiv mit den beigabenführenden Bestattungen jener Zeit, die vielfältige Analysen und differenzierte Aussagen erlauben u. a. zur Zeitstellung, zum sozialen Geschlecht, zu Status und sozialer Identität der Bestatteten. Die beigabenlosen Bestattungen hingegen sind für die Forschenden von geringem Interesse und werden daher selten näher analysiert. Der Vortrag wird herausarbeiten, wie groß dieser „blinde Fleck“ ist, und die Frage behandeln, ob und ggf. wie ein forschender Umgang mit den nahezu Unsichtbaren möglich ist.

Melanie Augstein • Unscharfe Relationen – Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit als Strategien visueller Kommunikation im Kontext hallstattzeitlicher Gräberfelder

Der Tod ist ein Ereignis, auf das jede Gemeinschaft (einerseits individuell, andererseits den jeweiligen Regeln entsprechend) reagieren muss. Insbesondere bei non-typographischen Gemeinschaften kommt dabei dem Aspekt des Visuellen eine große Bedeutung zu: Ordnungsvorstellungen werden durch visuelle Kommunikation, durch die Inszenierung von Gegenständen, aber auch des Leichnams im Grabkontext und durch das Handeln mit den Objekten im Rahmen der Bestattungszeremonien reproduziert oder modifiziert – sowohl sie selbst als auch ihre räumliche und kontextuelle Anordnung im Grab spielen in der Konstruktion sozialer Ordnung eine bedeutende Rolle. Gleichzeitig muss aber auch danach gefragt werden, für wen das überhaupt gilt – wer wurde auf Gräberfeldern ‚sichtbar gemacht‘? Der Vortrag soll – ausgehend von Beispielen aus der Hallstattzeit mit ihrem differenzierten Bestattungswesen – nach der Rolle von Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit bzw. der Anwesenheit oder Abwesenheit (von Individuen, aber auch von Objekten) auf Gräberfeldern als sozialen Strategien fragen, denn in der traditionellen Hallstattforschung wird die Gräberfeldtopographie als Spiegel einer (vertikalen) Ordnung verstanden, nach der etwa in den Hügelgräbern mit reicher Beigabenausstattung die ‚Elite‘ zu finden sei, in den ‚Kleinen Brandgräbern‘ dagegen sozial niedrigstehende Individuen. Geht man davon aus, dass diese Bestattungsplätze aber nicht die gesamte Bevölkerung abbilden, bleibt die Frage nach den ‚Unsichtbaren‘. Eine erweiterte Perspektive, die einerseits menschliche Überreste aus anderen Quellengruppen einbezieht (Siedlungs- und Höhlenbestattungen sowie aus sogenannten ‚Kultplätzen‘), andererseits einen breiteren kulturwissenschaftlichen Ansatz verfolgt, der den Umgang mit dem menschlichen Körper, aber auch Visualisierungs-, Distinktions- und Marginalisierungsmechanismen konzeptualisiert, vermag dieses statische Bild aufzubrechen.

Philomena Over • Die Hapiru – Revolutionäre oder Terroristen? Sozialarchäologische Betrachtung der „Hapiru“ in der spätbronzezeitlichen Levante

„Hapiru“ – dieser Name versetzte die Stadtkönige der spätbronzezeitlichen Levante in Angst und Schrecken. Aus dem Nichts heraus taucht die Bezeichnung „Hapiru“ im frühen 2. Jt. v. Chr. in den Briefwechseln zwischen den Pharaonen und den levantinischen Stadtkönigen auf, die ihre Städte durch die „Hapiru“ bedroht sahen. In den folgenden Jahrhunderten wurde immer wieder von Bedrohungen durch die Hapiru berichtet, die offensichtlich außerhalb der bronzezeitlichen Stadtkulturen der Levante lebten und ähnlich wie „Piraten“ des Festlands als räubernd und zerstörend die Stadtkönigtümer heimsuchten, bevor der Name im 11. Jhd. v. Chr. aus dem Schriftverkehr verschwand. Wer aber waren die Hapiru? Nach den Schriftquellen zu schließen handelte es sich um bösartige Aggressoren, Außenseiter und eine permanente Bedrohung für die städtischen Gemeinschaften. Zugleich verbündeten sich manche Stadtkönige mit den Hapiru, um gegen konkurrierende Städte gemeinsam militärisch vorzugehen. Auch von massiven Zerstörungen in Städten durch die Hapiru wird in den Texten berichtet und bisweilen werden Zerstörungskontexte den Hapiru zugeschrieben.
In meinem Beitrag möchte ich meine sozialarchäologische Analyse der archäologischen und schriftlichen Hinweise auf die Hapiru vorstellen. Ich frage, inwiefern bereits der Begriff „Hapiru“ unseren Blick auf die Komplexität und Heterogenität dieses Phänomens verstellt und wir es mit einer (semi-)mobilen Parallelgesellschaft zu tun haben, die zugleich Opfer wie Gefährder der bestehenden Ordnungen war. Die Ergebnisse dieser Untersuchung entstammen meiner gleichnamigen Masterarbeit.

Andrea Binsfeld & Agnes Thomas • Allgegenwärtig und doch unsichtbar? Sklaverei im Spiegel der archäologischen Quellen

Sklaven waren in der Antike in allen Lebens- und Produktionsbereichen gegenwärtig, waren sie aber auch sichtbar? Welche Möglichkeiten hatten sie, ihre Gegenwart zu visualisieren? Wie und wo wurden sie marginalisiert? Welche Möglichkeiten der Integration gab es, und wie konnten sie ihren Widerstand gegen die Herren zum Ausdruck bringen? Der Beitrag wird sich diesen Fragen aus zwei Perspektiven nähern: Auf der Grundlage von verschiedenen archäologischen Bildgattungen aus griechischer und römischer Zeit (Terrakotten, Lampen, Grabdenkmälern etc.) werden einerseits die (Un)sichtbarkeit und die Strategien der (Un)sichtbarmachung durch die Sklavenbesitzer und damit des freien Teils der antiken Gesellschaften in vergleichender Weise in den Blick genommen Andererseits zeigt möglicherweise gerade die interpretatorisch nur schwer erschließbare Gattung der Schauspielerterrakotten aus griechischer Zeit Anklänge eines widerspenstigen Verhaltens besonders der männlichen Sklaven und damit eines bewussten Widerstands gegen die eigene Situation in Sklaverei.
Da die Archäologie als Geschichtswissenschaft und dabei besonders die Beschäftigung mit der Sklaverei nicht ohne den Einfluss ideologisch-theoretischer Diskurse und Prägungen auskommt, wird der Beitrag außerdem Anknüpfungsmöglichkeiten zu diesem Themenbereich der Sektion bieten. Gerade die deutsche Sklavereiforschung stand seit den 1950er Jahren in einem Spannungsfeld zwischen der historischen Forschung in der DDR sowie der Sowjetunion und einer teils dezidiert anti-marxistischen Forschung in der BRD, sodass bis heute die Einflüsse spürbar sind. Einen Niederschlag haben diese ideologischen Differenzen in der sog. Vogt-Finley Kontroverse gefunden, die zumindest den weiten Rahmen der möglichen Interpretationen von Sklaverei verdeutlicht hat. Auch wenn der Vortrag nicht zum Ziel hat, diesen Bereich der Forschungsgeschichte systematisch vorzuführen, stellt sich doch bei jeder historischen Auswertung der Quellen immer wieder die Frage, wo wir uns selbst im Vergleich zur bisherigen Forschung positionieren, sodass automatisch wichtige Impulse für übergreifende Diskussionen gesetzt werden können.

Ulrich Müller • Rebellionen – materielle (Un-)Sichtbarkeiten zwischen Befunden und Interpretationen

Der Vortrag zielt auf die vielfältige und zugleich wenig präsente Materialität von Protesten und anderen Widerstandsformen. Diese sind oftmals im archäologischen Befund wenig sichtbar – vor allem wenn es sich um temporäre Erscheinungen handelt, die  kaum Spuren in den primären und sekundären archäologischen Formationsprozessen hinterlassen. Oder weil sie nicht wahrgenommen werden sollen oder wollen, womit die wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Perspektivierung gemeint ist.  Dabei sollen folgende Aspekte im Mittelpunkt stehen:
1. „Es ist egal, ob eine Katze schwarz oder weiß ist – Hauptsache, sie fängt Mäuse“. Begriffsbestimmungen (Methoden und Forschungspraktiken): Aus der Soziologie, Politologie, aber auch Kulturanthropologie und nicht zuletzt im alltäglichen  Gebrauch wir kennen zahlreiche und z. T. widersprüchliche Definitionen des „Sich-Widersetzens“ (so der Duden). Hier stellt sich für Archäologen*Innen die Frage: welche Konzepte in Hinblick auf spezielle Befunde und Funde, aber auch in einer komparativen Perspektive hilfreich und tragfähig sind. Zudem soll auf das Potenzial (oder das Risiko) der verdichteten und parallelen Überlieferungen eingegangen werden. Bietet die Multiperspektivierung wirklich ein Mehr an Informationen und damit eine verlässlichere Analyse?
2. „Der Revolutionär schwimmt im Volk wie ein Fisch im Wasser“ – Ebenen der Rebellion zwischen individuellen Akteuren und gesellschaftlichen Konstellationen. Die multivokalen und zeitlich hoch dynamischen Formen von Widerstand fordern die Archäologie methodisch heraus. Dies lässt sich z. B. anhand von Lagern und Gefängnissen ebenso aufzeigen wie anhand von Orten des Protests (Protestcamps), an denen z. B. staatliche und nicht-staatliche „Gewalt“ sehr unterschiedlich sichtbare Spuren hinterlässt. 
3. Nach all den Zitaten von Deng Xiaoping und Mao Zedong. Interpretation und Instrumentalisierung. Der wissenschaftlich archäologische Blick auf Formen des Widerstandes und die Auseinandersetzung damit findet meist in gesellschaftlich mehr oder minder deutlichen Konfigurationen statt. Dies kann beispielsweise an den konfessionelle Bilderstürmen der frühen Neuzeit ebenso diskutiert werden wie für den Spanischen Bürgerkrieg oder den Deutschen Herbst 1977. Welche Rollen spielen Archäologen*Innen und die mit ihren Objekten verbundenen Narrative nicht nur in der wissenschaftlichen, sondern der außer-wissenschaftlichen Diskussion.

Martin Renger & Stefan Schreiber • Das menschliche und nicht-so-menschliche Andere? Ausgrenzungsregime als ein Effekt gesellschaftlicher Ordnung und Resilienz

Gesellschaften sind soziokulturelle Formationen in permanenter Bewegung. Sie sind nicht, sie geschehen (Schwietring 2011). Ihre Kohäsion ist dadurch äußerst diskutabel. Trotz Heterogenität, Differenz und beständiger Transformation werden ihnen in der Archäologie aus forschungsanalytischer Perspektive oft zugrunde liegende Ordungungsmodi unterstellt, die nicht nur starr anmuten, sondern auch als gewissermaßen voraussetzungsarm stabil angesehen werden. In den letzten Jahren lässt sich dies vor allem am Begriff der Resilienz festmachen. In diesem Verständnis erscheint dagegen gesellschaftlicher Wandel als erklärungsbedürftiges Phänomen, da meist – für die Untersuchung notwendig? – simplifizierend ein verhältnismäßig langes Existieren gesellschaftlicher Ordnungen mit anschließendem Kollabieren selbiger und Implementieren neuer Ordnungs- und Organisationsformate postuliert wird. Aber ist dem wirklich so?
Unsere These lautet, dass Gesellschaften selten feste Zustände formieren, sondern vielmehr Vergesellschaftungsprozesse aus Ordnungs-, Unordnungs- und Umordnungsfaktoren sind. Sie sind weder abgeschlossen noch stabil. Stattdessen sind sie bereits in ihrer wie auch immer gerichteten (Trans-)Formation immer unzulänglich und fehlerhaft. Die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnung oder die Wiederherstellung bzw. Wiederkonsolidierung dieser Ordnung nach Krisensituationen als Resilienz sind voraussetzungsvoll und mit Konsequenzen verbunden, die es sichtbar zu machen gilt. Eine wesentliche und u. E. problematische Konsequenz ist die Etablierung von Ausgrenzungsregimen für solche Elemente, die sich aus Sicht der ‚Ordnungsmacht‘ als nonkonform und ungeordnet verhalten. Nur darüber lässt sich über eine begrenzte Zeit, (der Anschein einer) Stabilität erreichen.
Ausgrenzungsregime sind demnach Ordnungsstrategien, durch die versucht wird, alles Unsichere und in Gegenbewegung Befindliche zu verdrängen und unsichtbar zu machen. Sie sind letztlich damit (effektive) Verschleierungs- und Neutralisierungstaktiken gesellschaftlicher Widersprüche und Zerrkräfte. Dies geschieht über die Herstellung bestimmter normativ-ontologischer Ausschlüsse genauso wie über soziokulturelle Exklusionskonstruktionen. Damit sind Ausgrenzungregime historisierbar und je spezifisch. Das betrifft sowohl das humanistisch-spezizistische Ausgrenzungsregime des Nichtmenschlichen, der Ausschluss nichtmännlicher Existenzweisen in patriarchistischen Praktiken, die Inklusion und gleichzeitige Exklusion durch die Konstruktion von Identität sowie die kolonialistische, rassistische, politische, soziale, kulturelle und ökonomische Ausgrenzung Subalterner. Eine Archäologie der Ausgrenzungsregime wäre daher keine bloße Übertragung (post)moderner Ausgrenzungsformen auf die Vergangenheit, sondern eine Analyse der Möglichkeitsbedingungen, die in bestimmten (prä)historischen Konstellationen Ausgrenzungen beförderten und welche Wesenheiten eigentlich aus- oder eingeschlossen wurden. Oder um es anders zu formulieren: Welche potentiellen Gesellschaftsmitglieder opfern Gesellschaften jeweils, um ihre Ordnung und Resilienz zu wahren? Der Beitrag verfolgt dabei das Ziel, gesellschaftliche (Un- und Um-)Ordnungen zunächst theoretisch zu konzeptualisieren und anschließend für die Archäologie zu operationalisieren. Daran schließt sich die Frage nach den Potentialen an, in Ausgrenzungsregimen offen emanzipativ und verdeckt subversiv Möglichkeitsräume zu generieren aber auch für die gegenwärtige kritisch reflexive Perspektive, welchen Anteil die Forschung bei der Re-/Produktion solcher Ausgrenzungsformate bezogen auf die Vergangenheit eigentlich hat.
Lit.: Thomas Schwietring, Was ist Gesellschaft? Einführung in soziologische Grundbegriffe (Bonn 2011)

Yvonne Burger • Das vergessene Lager. Archäologische Untersuchungen im ehemaligen Lager Gunskirchen, ein Außenlager des Konzentrationslagers Mauthausen

Das Lager Gunskirchen, ein Außenlager des Konzentrationslagers Mauthausen, diente als Auffanglager für Häftlinge und ZwangsarbeiterInnen, die im April 1945 über mehrtägige Todesmärsche von Mauthausen nach Gunskirchen getrieben wurden. Heute erinnert beinahe nichts mehr an dieses Lager und die katastrophalen Zustände, die dort herrschten. In dem Waldstück, in dem sich das Lager befand, sind wenige bauliche Überreste der Baracken und Latrinen erhalten und es gibt bis heute keine würdige Gedenkstätte.
2011 starteten die ersten archäologischen Untersuchungen am historischen Gelände. Bis vor kurzem lagen die Habseligkeiten der Opfer, wie Schuhe, Kleidungsstücke, Geschirr oder Zahnbürsten, aber auch Objekte der Täter, am Waldboden. 2019 wurden diese Objekte geborgen. Zudem setzt sich eine Arbeitsgruppe für den Erhalt des historischen Geländes und einen würdigen Gedenkort ein. Die Meinungen der Interessensvertreter sind jedoch sehr unterschiedlich. Sollen das Gelände und die Objekte überhaupt sichtbar gemacht werden? Oder belässt man es bewusst in einem ruinösen Zustand?
Es soll der Versuch unternommen werden durch archäologische Methoden die Geschichte des Lagers Gunskirchen, soweit möglich, wieder sichtbar zu machen. Dies soll mit Einbezug weiterer Quellen geschehen, vor allem jene der Überlebenden dieses Lagers. Wieviel Potential steckt in den Objekten und kann durch sie etwas über die Menschen ausgesagt werden, wie etwa durch eine Häftlingsnummer auf einem Löffel? Weiters sollen die unterschiedlichen Interessen zum Erhalt und der Sichtbarmachung des Geländes diskutiert werden und welche Herausforderungen und auch Grenzen sich dabei ergeben.

Patrick Hillebrand • Alltagsgegenstände aus ehemaligen Konzentrationslagern – Materielle Hinterlassenschaften als objektiverer Zugang zum Häftlingsalltag. Alltag, Häftlingsgesellschaft, Materielle Kultur

Objekte und Gegenstände des täglichen Lebens stellen für die Rekonstruktion des Lebens und Überlebens der Häftlinge aus ehemaligen nationalsozialistischen Konzentrationslagern eine wichtige Quelle dar. Als Hauptquelle der Archäologie bieten materielle Hinterlassenschaften im Kontext eines Konzentrationslagers einen kompletteren und objektiveren Zugang zum Häftlingsalltag als Zeitzeugenberichte. In diesem speziellen Fall liegt dieser Umstand unter anderem in der Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft und ihrer Unterteilung in verschiedene Häftlingskategorien durch die SS begründet.
So wertvoll einzelne Zeitzeugenberichte sind, muss man sich darüber im Klaren sein, dass nur eine sehr geringe Zahl der Häftlinge überhaupt Erinnerungen veröffentlichen konnten, vor allem, weil viele die Haft nicht überlebt haben. So ist unsere Kenntnis über die Erfahrungen jener Häftlinge, die gestoben sind, praktisch nicht existent. Aber auch überlebende Häftlinge, die als „Kriminelle“ oder „Asoziale“ eingestuft wurden, haben ihre Erinnerungen aus verschiedenen Gründen äußerst selten veröffentlicht, unter anderem, weil ihre Haftgründe auch in der Nachkriegsgesellschaft noch oft als gerechtfertigt angesehen worden sind. Wir haben es innerhalb dieser Quellengattung also mit einem vergleichsweise kleinen Teil eines großen Ganzen zu tun, dessen Aussagekraft wiederum individuellen Intentionen und Ausführungen unterworfen ist. Die Deutungshoheit über die Ereignisse haben in der Regel die ehemaligen politischen Häftlinge, denen aus oben genannten Gründen häufig kein Korrektiv gegenübersteht. So muss dann auch klar herausgestellt werden, dass die Erinnerungen der politischen Häftlinge nicht die tatsächliche Lagerrealität darstellten, sondern diese aus einem bestimmten Blickwinkel zeigt.
Mein Vortrag soll anhand ausgewählter Artefakte aus Konzentrationslagern zeigen, dass archäologische Quellen einen objektiven Zugang zum Lageralltag darstellen können, da sie nur in manchen Fällen einzelnen Häftlingen oder Häftlingskategorien zugeordnet werden können und da sie aus verschiedenen Befundsituationen in den Lagern stammen. In denjenigen Fällen, in denen eine Zuordnung durch Individualisierungen von Artefakten möglich ist, kann die Archäologie Häftlingen sowohl einen Namen geben als auch ihren individuellen Alltag im Konzentrationslager teilweise rekonstruieren.

Laura Rindlisbacher, Elias Flatscher, Norbert Spichtig & Sandra L. Pichler • „Eine Totenhalle für Lebendige“? Ein Blick in die Lebensbedingungen einer frühneuzeitlichen Irrenanstalt anhand des Bestattungskollektivs aus dem Kreuzgarten des Basler Barfüsserklosters

In der Frühen Neuzeit entsteht in Europa ein neues Irrenwesen, wobei sich nicht nur die Behandlung von Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen verändert, sondern auch die Wahrnehmung solcher Individuen in der Gesellschaft. Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert sind „Irrenanstalten“ ein Sammelbecken für Personen mit unterschiedlichsten Kranken- und Lebensgeschichten. Im nachreformatorischen Basel (Schweiz) ist mit der Institution des Almosens, einer Abteilung des städtischen Spitals, eine solche Einrichtung historisch und archäologisch fassbar.
2016/17 konnte die Archäologische Bodenforschung im Bereich des Kreuzganges des ehemaligen Barfüsserklosters, in dessen Mauern nach der Reformation das Almosen untergebracht war, umfangreiche Ausgrabungen durchführen. Im Bereich des Kreuzgartens wurden etwa 260 Bestattungen freigelegt. Anhand des archäologischen Fundmaterials ist davon auszugehen, dass diese Gräber nicht in die klösterliche Nutzungszeit fallen, sondern nachreformatorisch datieren.
In einem interdisziplinären Forschungsprojekt der Universitäten Basel und Zürich, sowie der Archäologischen Bodenforschung Basel-Stadt werden die archäologischen und osteologischen Befunde ausgewertet und historische Quellen aus dem Basler Staatsarchiv aufgearbeitet. Daneben sollen bioarchäometrische Analysen (aDNA-Untersuchungen und Ernährungsrekonstruktion anhand stabiler Isotope) helfen, die Lebensbedingungen des im Kreuzgarten freigelegten Bestattungskollektivs zu rekonstruieren. Spuren von Krankheiten, chirurgischen Eingriffen, aber auch osteologisch nachweisbare Folgen von Zwangsmassnahmen oder Behandlung in der „Irrenabteilung“, bieten die Chance, Spitalpatient*Innen und Almoseninsass*Innen nachzuweisen. Ein Ziel ist, Lebensrealitäten von marginalisierten Teilen der Basler Bevölkerung sichtbar zu machen.

Nikolai Shcherbakov & Iia Shuteleva • Bioarchaeological Methods as a Marker of Social Inequality in Late Bronze Age Societies of the Southern Urals

The territory of the Southern Urals during the Late Bronze Age period 1890-1750 BCE was an interaction zone for the Srubnaya and the Andronovskaya archaeological cultures. The interaction between these groups had created a special mixed material culture which (at the same time) had both stable common features of independent the Srubnaya and the Andronovskaya archaeological cultures as well as it acquired stable local peculiarities. Characteristics of the archaeological cultures in the contact zone vary. Burial traditions of these cultures were quite strongly standardized. Burial mounds were specific for these funerary traditions (burying under the mounds).The grave goods are poor, represented mainly by vessels. Such ordinary indicators do not cast any light on the social structure of these early societies.
Bioarchaeological methods enable alternative indications of inequality and marginalization of Late Bronze Age society to be identified. Ancient DNA data received suggests that inequality was an attribute of individuals of the male biological sex. Application of physical anthropological methods enabled an osteobiography of the buried to be created. Isotopic analysis, stable isotope (δ13C? δ15N), enabled the reconstruction of a paleodiet. Individuals of the male biological sex of marginal social status had visible stress markers in the enamel area (dental crowns), and degenerative-inflammatory diseases of the bones and joints (osteoporosis and coxarthrosis).

Henriette Baron • Gewidmet all den Kreaturen, die nie Wertschätzung erfuhren

Dass die Geschichtsschreibung eine Geschichtsschreibung der Relevanten ist, zeichnet sich mit großer Deutlichkeit im Feld der Tiergeschichte ab. Wenngleich das Schicksal der Menschen während seiner ganzen Geschichte fest und eng mit dem anderer Lebewesen verbunden war, wird seine Geschichte in der Regel isoliert betrachtet. Das bedeutet, dass der Erforschung von Tieren instinktiv (unreflektiert) keine Relevanz zugesprochen wird. Zu Recht?
Während bestimmten Tieren – vor allem den „vom Menschen geschaffenen“ Haustieren – immerhin in wirtschaftlicher Hinsicht eine passive Rolle als Instrument des Menschen zugestanden wird, wird die Eigendynamik von Tieren in der Regel völlig ausgeblendet und die soziale Rolle von Tieren ist erschreckend unbekannt. Dabei hatte unsere eigene Tierlichkeit seit jeher zur Folge, dass wir Tieren auf andere Art begegneten und anders mit ihnen interagierten als mit Dingen oder auch Pflanzen. Die Vielfalt der Interaktionen zwischen Menschen und Tieren hatte teils kleinere, teils größere Wechselwirkungen mit der Kultur-, Sozial-, Wirtschafts- und Umweltgeschichte.
Die Vernetzung dieser Akteure und ihre Implikationen lassen sich durchaus greifen. Dies erfordert jedoch nicht nur eine Anpassung der Grabungstechnik und des Teams – sondern zu aller erst einen Paradigmenwechsel in den Fragestellungen.

Kerstin P. Hofmann, Christina Sanchez-Stockhammer & Philipp W. Stockhammer • Sollen wir den Knochen einen Namen geben? Zu Praktiken der (De-)Personalisierung und Objektifizierung prähistorischer Menschen

„Wie heißt Du?“ ist keine Frage, die Prähistorische Archäolog_innen einem von ihnen ausgegrabenen Menschen stellen können. Vielmehr werden die „menschlichen Überreste“ wie alle übrigen, nicht-menschlichen Reste sorgsam dokumentiert, nummeriert, beschriftet, eingetütet, bestimmt. Die Knochen bleiben Objekt wie so viele andere Funde, die während einer Ausgrabung geborgen werden. In seltenen Fällen tritt uns aber im archäologischen Befund ein Individuum entgegen, das uns aufgrund seiner besonderen Erhaltung – zum Beispiel als Moor- oder Eisleiche – quasi aus der Vergangenheit entgegenblickt. In diesen Fällen neigen wir dazu, den „menschlichen Überresten“ einen Namen zu geben und die ansonsten oft auch durch unsere Forschungspraktiken entpersonalisierten Fundobjekte wieder zu Subjekten werden zu lassen. Seit wenigen Jahren ermöglichen nun bioarchäologische Herangehensweisen, ein ganz neues Licht auf das Leben bis dato anonymer Knochen zu werfen, indem sie uns z. B. individualisierte Informationen zu Verwandtschaft, Krankheiten und Ernährungspraktiken bieten. Die Frage, wie wir unsere Knochen bezeichnen oder benennen sollen, wird daher umso relevanter; zumal ja auch die Diskussion über und Forderung nach Erzählungen anhält. Wichtig dabei ist auch eine ethische Reflexion über die Folgen. Können wir durch Benennung einer Marginalisierung von Individuen der Vergangenheit entgegenwirken und/oder eignen wir uns damit die Vergangenheit nur noch mehr an, indem wir sie sie mit von uns kreierten Personen kolonialisieren? In unserem Beitrag möchten wir somit Benennungspraktiken, die aus ihnen resultierenden Konsequenzen der Wahrnehmung menschlicher Überreste und zukünftige Entwicklungen infolge neuartiger Erkenntnismöglichkeiten diskutieren. Es geht uns darum, ein größeres Bewusstsein und einen reflektierteren Umgang mit archäologischen Benennungspraktiken und damit oft einhergehenden Beschreibungen und Erzählungen zu erzeugen.

Julia K. Koch • Von der Ausnahme zur Normalität. (Bald) 150 Jahre Frauen in der Archäologie Schleswig-Holsteins

Zwar steigt die Anzahl der weiblichen Studierenden in den archäologischen Fächern bundesweit kontinuierlich über 50 %, dennoch kann weiterhin eine Abnahme des Frauenanteils spätestens nach der Promotionsphase mit anschließendem Berufsbeginn festgestellt werden (vgl. DISCO. Discovering the Archaeologists of Germany 2012-14). Zum einen liegen die Ursachen sicherlich in den vielen Herausforderungen, die eine Karriere von Frauen in der Wissenschaft aktuell behindern können. Zum anderen fehlen aber auch Vorbilder für weibliche Berufswege im direkten Umfeld wie im gesamten Fach. Bei letzterem Aspekt setzt das Projekt einer mobilen Ausstellung „Die Vergangenheit aufdecken. Frühe Archäologinnen in Schleswig-Holstein“ an, das 2020 im Rahmen des Ideenkontests 3.0 der Gleichstellungsbeauftragten der Philosophischen Fakultät CAU Kiel mit weiterer finanzieller Unterstützung durch den Förderverein Archäologie Schloss Gottorf e.V. umgesetzt wird.
Neben einer inhaltlichen Vorstellung des Konzepts und der Biographien der sechs ausgewählten Archäologinnen, von denen bislang immer nur eine im Focus der forschungsgeschichtlichen Interessen stand, soll der weitere Weg der Frauen in die Wissenschaft diskutiert werden. Zwar wurde das Studium einer anfangs als Minderheit begriffenen Gruppe nach 100 Jahren Frauenstudium zur Normalität; die anschließenden Berufsmöglichkeiten entsprechen jedoch nicht der von männlichen Vorbildern geprägten Norm beruflicher Laufbahnen. An diesem Punkt interessiert die Relevanz für die heutige Generation, auf weibliche Vorbilder und Vorkämpferinnen zurückzugreifen zu können. Gleichzeitig wird hinterfragt, wieso gerade jetzt ein solches Ausstellungsprojekt realisiert werden kann.

Florian Martin Müller • Laienforschung und/gegen Fachwissenschaft – Die archäologischen Ausgrabungen in der Römerstadt Aguntum in Osttirol 1912/13

Archäologie war seit jeher eine Disziplin, die schon in ihrer Frühzeit das Interesse einer breiten Öffentlichkeit geweckt hatte und daher in ihrer Weiterentwicklung stark von engagierten Laien geprägt war. Im Zuge der Professionalisierung der Wissenschaften entstand Mitte des 19. Jahrhunderts auch die Archäologie als eigene wissenschaftliche Disziplin. Waren die Grenzen zwischen Dilettantismus und Professionalität bis zu dieser Zeit fließend gewesen und konnte bis dahin genau genommen eigentlich jeder archäologisch Tätige mehr oder weniger als Laie bezeichnet werden, änderte sich dies mit der Disziplinwerdung und der damit einhergehenden Etablierung von fachspezifischen Ausbildungen an Universitäten. Ab diesem Zeitpunkt war nun eine Differenzierung zwischen akademisch ausgebildeten, durch Institutionen gedeckten und somit finanziell abgesicherten Fachwissenschaftlern und Autodidakten, nicht in die jeweilige scientific community eingebundenen Privatgelehrten möglich. Gerade letzterer Punkt und damit einhergehend das schwer auffindbare oder gar nicht mehr vorhandene Quellenmaterial stellt ein großes Problem bei der Beschäftigung mit dem Leben und Wirken von Laienforschern dar. Über Leben und Werk von Wissenschaftern an großen öffentlichen Institutionen ist man zumeist dadurch gut informiert, da vor allem diese Institutionen auch über Archive verfügen, die über längere Zeiträume entstanden, gepflegt und somit erhalten wurden. Der Dilettant als institutioneller Außenseiter hingegen „verschwindet“ bildlich gesprochen schon nach kurzer Zeit und wird „unsichtbar“. Was die erste Generation von Nachfahren noch als Erinnerung an ihn aufbewahrte, landet bei der zweiten vielfach unerkannt im Abfall. Obwohl von Laienforschern oftmals nicht unbedeutende Ergebnisse und neue Erkenntnisse erbracht wurden, blieben diese vielfach unbeachtet. Dies hatte oftmals auch Spannungen mit Fachgelehrten als Ursache, die nicht immer nur sachlich und fachlich begründet waren, und  – abhängig von den beteiligten Personen – zu Angriffen und tiefen persönlichen Zerwürfnissen führten.
Im Vortrag soll dies in einem konkreten Beispiel behandelt werden: 1912/13 begannen in der Römerstadt Aguntum in Osttirol die ersten großflächigen archäologischen Ausgrabungen. Es handelte sich dabei aber nicht um ein Unternehmen sondern zwei Personen arbeiteten z. T. an denselben Plätzen aber zeitlich um wenige Tage versetzt: Zum einen der Franziskanerpater Innozenz Ploner (1865–1914) aus eigenem Interesse und Antrieb, zum anderen der studierte Altertumswissenschaftler und damals als Gymnasiallehrer tätige Rudolf Egger (1882–1969) im Auftrag des Österreichischen Archäologischen Instituts in Wien. Während Ploner – zwar methodisch diskussionswürdig und in seiner Interpretation phantasievoll – laufend Entdeckungen wie die Stadtmauer, die Therme und eine römische Villa machte, seine Grabungen dabei auf ein ungeheures öffentliches Interesse stießen und schon von einem „Tiroler Pompeji“ die Rede war, waren die Untersuchungen Eggers von deutlich  weniger Erfolg gekrönt. So positiv Ploner in der Öffentlichkeit gesehen wurde, so harsch viel die Kritik der archäologischen Fachwelt aus, wie unzählige Briefe und Akten des Österreichischen Archäologischen Instituts und der k. k. Zentralkommission für die Erhaltung und Pflege der Denkmale, der obersten Denkmalbehörde der Monarchie, belegen. Neben fachlich berechtigter Kritik dürften dabei aber auch Neid und Standesdünkel eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben.
Beide Grabungsunternehmungen endeten zwar 1913 plötzlich, sollten aber noch bis in die späten 1920er Jahre aufgrund unklarer Zuständigkeiten, verschiedener Amtsverständnisse, finanzieller und personeller Schwierigkeiten Probleme verursachen. Während der Laie Ploner 1914 plötzlich verstarb und nahezu in Vergessenheit geriet, wird Egger, der in den folgenden Jahrzehnten eine glänzende archäologische Karriere machte, als der erste wissenschaftliche Ausgräber Aguntums angesprochen. Auch die Mechanismen dieses Wandels bzw. dieser Umkehr der Bedeutung der beiden Personen in ihrer Rezeption sowohl in der Öffentlichkeit als auch in Kreisen der Wissenschaft sollen im Vortrag aufgezeigt werden.

Kristin Oswald • Abseits von Fan Boys and Girls. Minderheiten in der Archäologiekommunikation

Außenseiter*innen und Randgruppen gibt es in zahlreichen Bereichen der archäologischen Arbeit – bei den Forschungsthemen, bei den Forschenden selbst und in der Kommunikation. Dabei geht es nicht nur um die Inhalte, sondern ebenso um die Zielgruppen, mit denen kommuniziert wird. Auch hier wird nur bedacht, wer in den Blick der Forscher*innen, Vermittler*innen und Kommunikator*innen gerät, und auch dies hängt eng mit bestehenden, gewachsenen Gesellschaftsmodellen zusammen, denn Forschende richten sich in ihrer Kommunikation primär an Menschen ähnlicher Backgrounds. Für die Archäologie bedeutet das: Menschen mit hohem Bildungsniveau und europäischem Bildungshintergrund, die bereits über umfangreiches archäologisches Vorwissen verfügen. Diese Zielgruppe ist aber keineswegs repräsentativ für die hiesige – oder bei internationalen Forschungen für die lokale – Bevölkerung, sondern grenzt vielmehr einen Großteil davon aus. Der Wissenschaftskommunikationsforscher Craig Cormick hat das auf dem Portal Wissenschaftskommunikation.de so formuliert: „[…Science] Fan Boys and Fan Girls [are] further away from the […] average than any of the other segments, which means those people working in science […] are not just at risk of group-think, but can have as much difficulty understanding the perspectives and values of the other segments as the other segments have of understanding them.” Das ist verheerend für archäologische Wissenschaftsdisziplinen, deren Themen für nicht-Wissenschaftler*innen nur bedingt einen intrinsischen Wert haben und konkrete Anknüpfungspunkte benötigen. Der Vortrag zeigt deshalb zum einen beispielhaft auf, wie sich der aktuelle Umgang mit Außenseiter*innen und Randgruppen in der archäologischen Wissenschaftskommunikation niederschlägt. Zum zweiten überträgt er Erkenntnisse aus Studien der Psychologie, den Sozial- und Kommunikationswissenschaften auf die Archäologie. Und zum dritten möchte er gemeinsam mit dem Publikum diskutieren, ob und wie Ansätze etwa aus Bereichen wie Citizen Science oder postkoloniale Studien dazu beitragen können, das Verständnis für und die Kommunikation mit Minderheiten in der Archäologiekommunikation zu verbessern.