Programm „Kategorienbildung und dann? Komplexität, Widersprüchlichkeit und Vielfalt archäologisch begreifen“

Gemeinsame Session der AG Geschlechterforschung und der Theorien in der Archäologie auf der Verbandstagung des MOVA und WSVA in Jena 4.-7.04.2022

Organisiert durch: Hanna Jegge, Jana Esther Fries und Sophie-Marie Rotermund

Tag 1 Nachmittag

14.00 – 15.30 Uhr 2 Input Vorträge (á 20 min.)

  • Hanna Jegge • Begrüßung
  • Sophie Rotermund, Jana Esther Fries • Kategorienbildung und dann?
  • Claudia Maria Melisch • Prinzessin von Berlin-Britz

16.00-17.30 Uhr World Café:
Vom Nutzen und der Unvermeidlichkeit von Kategorien

Tag 2 Vormittag

8.30 – 10.00 Uhr 3 Input Vorträge (á 20 min.)

  • Michaela Helmbrecht • Komplexität, Widersprüchlichkeit und Vielfalt archäologisch begreifen – und sprachlich umsetzen. Gedanken einer Sprachfetischistin
  • Stefan Schreiber • Queere Geschlechter – relationale Subjekte? (Warum) Sind Geschlechter dual resilienter?
  • Eleonore Pape • Grenzen traditioneller und Potentiale revidierter Geschlechtsbestimmungsmethoden für die Interpretation von Gender anhand prähistorischer Bestattungen

10.30-12-30 Uhr World Café:
Wieso Kategorien unser Denken begrenzen

Tag 2 Nachmittag

14.00 – 15.30 Uhr 2 Input Vorträge (á 20 min.)

  • Daniela Nordholz • Identitäten (gender und mehr) im Spätpaläolithikum und Mesolithikum
  • Sonja Grimm, Daniel Gross • Göttinnen und Jäger – Genderdebatte und Stereotype in der Wildbeuter-Archäologie (digital)
  • Philipp Tollkühn • Männliche Hofbesitzer in der Bandkeramik?!

16.00 – 17.30 Uhr World Café:
Komplexität begreifen – aber wie? Für einen besseren Umgang mit Kategorien

Download des Programms und der Abstracts hier

Abstracts
Claudia Maria Melisch • Die „Prinzessin von Berlin-Britz“

Ich möchte gern die multidisziplinäre Untersuchung einer völkerwanderungszeitlichen Bestattung aus Berlin-Britz und deren Ergebnisse erläutern. Dieses Grab wurde per Zufall in den fünfziger Jahren gefunden und zeitnah anthropologisch untersucht. Mitgefunden wurde eine kleine Glasschale. Der untersuchende Anthropologe kam zu dem Schluss, dass es sich um das Skelett um ein jugendliches Mädchen handelte. Die fortan so genannte „Prinzessin von Britz“ wurde im Gipsbett im Heimatmuseum ausgestellt. Genetische Untersuchungen 2015 zeigten, dass die Prinzessin biologisch ein Junge gewesen ist.

Michaela Helmbrecht • Komplexität, Widersprüchlichkeit und Vielfalt archäologisch begreifen – und sprachlich umsetzen.Gedanken einer Sprachfetischistin

In meinem Vortrag möchte ich der Frage nachgehen, wie Forschungsfragen und -ergebnisse sprachlich adäquat abgebildet werden können. Als Lektorin und Ausstellungsmacherin bevorzuge ich eine klare Sprache, die das Gesagte möglichst ohne Lesehindernisse transportiert; als Wissenschaftlerin jedoch eine möglichst präzise Ausdrucksweise, die der Vielfalt und Komplexität der Forschungsergebnisse Rechnung trägt. Der Vortrag versteht sich als Diskussionsbeitrag, der ein Problemfeld umreißt.

Stefan Schreiber • Queere Geschlechter – relationale Subjekte? (Warum) Sind Geschlechter dual resilienter?

Ich möchte ein Modell relationaler Subjektivierung zur Diskussion stellen, welches die Herausbildung von Geschlecht als Heterogenese begreift. Diese rückt im Sinne von Deleuze/Guattari Verflechtungen bio-mentaler, transkorporaler und gesellschaftlicher Subjektierungen in den Mittelpunkt. Solche Subjektivierungen können dahingehend resilient sein, dass sich bestimmte (De-)Stabilisierungen wie jene dualen Geschlechtlichkeiten auch in der Archäologie auf ihre Wirkungen und Gründe hin untersuchen lassen, ohne in essentialistische oder evolutionistische Fallen zu laufen.

Eleonore Pape • Grenzen traditioneller und Potentiale revidierter Geschlechtsbestimmungsmethoden für die Interpretation von Gender anhand prähistorischer Bestattungen

An der Rekonstruktion von Gender-Trends prähistorischer Gesellschaften auf der Grundlage von Bestattungen sind zwei komplementäre, doch unterschiedliche Disziplinen beteiligt: Archäologinnen identifizieren auf Basis von Objektkategorien und Praktiken das soziale Geschlecht, während Anthroploginnen das biologische Geschlecht anhand menschlicher Überreste bestimmen. Die Betrachtung publizierter Bestattungsplätze zeigt jedoch, dass die generierten sex- und gender-Daten in der Praxis mit vielfältigen Problemen behaftet sind. Auf Basis quantifizierter Studien werden mit diesem Beitrag die Grenzen traditioneller sowie die Potentiale revidierter Geschlechtsbestimmungsmethoden vorgestellt.

Daniela Nordholz • „Identitäten (gender und mehr) im Spätpaläolithikum und Mesolithikum“ (Arbeitstitel)

Archäologische Hinweise über die Lebenswirklichkeiten der spätpaläolithischen Menschen sind immer noch spärlich gesät, auch im Verhältnis zu den Lebenswirklichkeiten jüngerer Zeiten. So sind vielfach die Annahmen zu diesen Lebenswirklichkeiten eher spekulativ anzusehen, denn basierend auf reellen archäologischen Evidenzen. Wenn also behauptet wird, daß die Veränderung in sozialen Beziehungen, wie z. B. die Entwicklung der Kernfamilie, der Motor der Veränderung in der Entwicklung des Menschen hin zum homo sapiens war, so ist dies durch archäologische Befunde nicht direkt zu belegen, bleibt daher spekulativ. Es ist daher nur folgerichtig, wenn mit Daten aus der (Sport-) Medizin, der Ernährungswissenschaft, der Ethnologie, der Biologie ein alternativer Ansatz vorgestellt wird.

Sonja B. Grimm, Daniel Groß (digital) • Göttinnen und Jäger – Genderdebatte und Stereotype in der Wildbeuter-Archäologie

Steinartefakte sind die Hauptfundgattung der älteren Steinzeiten, jedoch enthalten sie keine Kennzeichnung, wer sie hergestellt hat. Ihre vermutete Verwendung und räumliche Verteilung wurden dennoch gelegentlich genutzt, um männliche und weibliche Bereiche auf steinzeitlichen Fundstellen zu identifizieren. Die zugrunde liegenden Stereotypen spielen auch bei anderen Interpretationen wie der weiblicher Figurinen hinein. In unserem Beitrag werden wir paläolithische und mesolithische Beispiele diskutieren und soziale Organisationen und Geschlechterkonzepte der Vergangenheit sowie die Grenzen solcher Ansätze neu überdenken.

Philipp Tollkühn • Männliche Hofbesitzer in der Bandkeramik?!

Mit der Entwicklung und späteren Etablierung des Hofplatzmodells für die Linearbandkeramische Kultur wurden Prämissen geschaffen, die zwar in erster Linie chronologische Relevanz besitzen, aber ebenso Auswirkungen auf die Rekonstruktion des Sozialgefüges mit sich bringen. Die postulierten Hofplätze wurden an die ältesten Söhne vererbt, die wiederum mit dem Bau ihres Hauses den Vater bzw. Großvater ehren (Lüning 2005). Komplette Siedlungen werden (in Verbindung mit Zwickelmotiven) in Clanbereiche untergliedert (Strien 2005) und für die komplette LBK wird Patrilokalität angenommen (Eisenhauer 2003b). Gestützt wird dies zumeist durch sogenannte Heiratsregeln, die offenbar durch Messungen der Strontiumisotopenwerte an Knochen belegbar seien (u.a. Eisenhauer 2003a). Doch wie kann allein dieser Begriff der Ethnologie auf Gesellschaften angewendet werden, in der die Existenz von Hochzeitsriten oder gar Konzepten von „(Kern)Familie“, „Monogamie“ oder „Verwandtschaft“ nicht vorausgesetzt werden können? Gibt es darüber hinaus Alternativen für ein bandkeramisches Sozialgefüge?

Quellenzitate:
Eisenhauer 2003a: U. Eisenhauer, Jüngerbandkeramische Residenzregeln. Patrilokalität in Talheim. In: Jörg Eckert, Ursula Eisenhauer, Andreas Zimmermann (Hrsg.): Archäologische Perspektiven. Analysen und Interpretationen im Wandel. Rahden/Westf. 2003, S. 562–573.
Eisenhauer 2003b: U. Eisenhauer, Matrilokalität in der Bandkeramik? Ein ethnologisches Modell und seine Implikationen. Archäologische Informationen, 2003, Vol. 26 (2), S. 321-331.
Lüning 2005: J. Lüning, Bandkeramische Hofplätze und absolute Chronologie der Bandkeramik. In: Jens Lüning, Christiane Frirdich, Andreas Zimmermann (Hrsg.): Die Bandkeramik im 21. Jahrhundert. Symposium in der Abtei Brauweiler bei Köln vom 16.-19.09.2002.Rahden/Westfalen: Leidorf, 2005, 49-74
Strien 2005: H.-Ch. Strien, Familientraditionen in der bandkeramischen Siedlung bei Vaihingen/Enz. In: Jens Lüning, Christiane Frirdich, Andreas Zimmermann (Hrsg.): Die Bandkeramik im 21. Jahrhundert. Symposium in der Abtei Brauweiler bei Köln vom 16.-19.09.2002. Rahden/Westfalen: Leidorf, 2005, 189-197