Theorie, Methode und Keltengenese

Ein Kommentar zu Otto H. Urbans Methode der keltischen Archäologie

 von Raimund Karl

Im Tagungsband des vierten deutschspra­chigen KeltologInnentages stellt Otto H. Urban (2007) seine Gedanken zu einer Methode der keltischen Archäologie und zu einem Modell der Keltengenese zur Diskus­sion. In diesem Artikel, der viele wertvolle Gedanken enthält, entwickelt Urban ein Ablaufmodell zum methodisch korrekten Vorgehen der keltischen Archäologie. Es soll die Ausgangsbasis für Vergleiche mit den Ergebnissen anderer keltisch-altertums­kundlicher bzw. keltologischer Teilwissen­schaften bilden und damit eine Verifikation bzw. Falsifikation der mittels archäologischer Methoden gewonnenen Ergebnisse ermög­lichen. Dieser Darstellung folgt – wohl als Anwendungsbeispiel für die vorgestellte Methode konzipiert – die Darlegung eines Modells der „keltischen Ethnogenese“ (ebd. 604–7). Gerade weil der Beitrag Urbans viele wertvolle Ansätze aufweist, ist ein Kommen­tar zu den ebenfalls enthaltenen problema­tischen Aspekten notwendig.

Zu Urbans Methode und ihrer theore­tischen Fundamentierung

Die von Urban (2007, Abb. 1–4) vorge­stellten Flussdiagramme, die notwendige Abläufe im wissenschaftlich-methodischen Vorgehen verdeutlichen sollen, und der dazugehörige Text bieten zweifellos einen ersten, ausbaufähigen Ansatz für eine methodologische Fundamentierung der keltischen Archäologie. So sind Urbans Ausführungen zur Bestimmung seines Aus­gangspunkts (ebd. 596–7), in denen er drei Ebenen der Verankerung seiner Methode kurz umreißt, wichtig und richtig. Dem zeitlichen und räumlichen Rahmen des Forschungsgebiets folgt die Verortung der keltischen Archäologie in gegenwärtigen Kontexten, wobei hier Aspekte wie der „Zeitgeist“, gesellschaftliche und struktu­relle Abhängigkeiten und die persönlichen Bedürfnisse der beteiligten Wissenschaftler genannt werden. Schließlich wird der Cha­rakter der keltischen Archäologie einerseits als Geschichtswissenschaft, andererseits als Kulturwissenschaft thematisiert. Dies sind zweifellos wesentliche Aspekte in der Bestimmung eines Ausgangspunktes und ihre explizite Nennung daher begrüßens­wert. Weiterhin sind die von ihm als Ebe­nen eins und zwei der Ordnungskonstrukte genannte externe und interne Quellenkritik (ebd. 597) bzw. die als Ebene eins bis drei der Konstrukte der Zeit in dieser Reihenfolge genannte Stratifikation, Datierung und das gesellschaftliche Verständnis von Zeit an sich (ebd. 598–9) von eminenter methodischer Bedeutung und ihre explizite Einbindung in ein übergreifendes methodisches Konzept richtig. Der Vollständigkeit und Übersicht­lichkeit wegen wird hier eine Kombination aus Urbans Abbildungen eins bis drei in leicht modifizierter Form wiedergegeben, in der ich jeweils meine Kurzbeschreibungen dessen, was im Text (ebd. 596–604) zu den jeweiligen Ebenen zu finden ist, eingefügt habe (Abb. 1). 

 Modifizierte Flussdiagramme 1-3 der keltischen Archäologie nach Urban (2007, 596-604)

Ebenfalls prinzipiell begrüßenswert, ist die Einbindung der Methode in einen erkennt­nistheoretischen Kontext sowie Urbans Versuch einer Definition der Quellen und Hauptfragen der keltischen Archäologie (ebd. 595–6). Wie Urban in der Einleitung seines Beitrags ausführt, sind Definitionen ein wichtiges Element jeder Methode. Aller­dings bin ich mit einer programmatischen und in der Methode verankerten Defini­tion solcher „Hauptfragen“ aus Gründen der Freiheit der Wissenschaft nicht glück­lich. Während keine Wissenschaft ohne Methoden auskommen kann, ist im Fall der „Hauptfragen“ meiner Ansicht nach Feyer­abends „anything goes“ zu bevorzugen (Feyerabend 1986, 32). Mein Unbehagen liegt in dem Umstand begründet, dass wir heute nicht wissen können, welche Fragen in der Zukunft von Bedeutung sein werden und daher eine programmatische Vorent­scheidung über die „Hauptfragen“ nicht nur nutzlos ist, sondern sogar schädlich sein kann.

 

Hauptfragen, Quellenbestimmung und theoretische Fundamentierung

 

Problematisch wird Urbans Beitrag, wenn man ins Detail geht. Als Hauptfrage defi­niert Urban „alle Kulturationsprozesse, die in direktem oder indirektem Zusammenhang mit der Kultur der Kelten stehen, sowie alle ereig­nisgeschichtlich bedeutsamen Vorgänge der Kelten“ (Urban 2007, 596). Leider bleibt der Begriff Kulturationsprozess undefiniert, bis auf einen kurzen Verweis darauf, dass die­ser „alle inneren (Enkulturation) wie äußeren (Akkulturation) Vorgänge und ihre Aus- bzw. Rückwirkungen“ (ebd.) einschließe. Dies bleibt relativ unproblematisch, wenn man Kultur betrachten möchte als „ ‚die Summe jenes Wissens und jener Fertigkeiten, die durch soziales Lernen weitergegeben werden, sowie den Prozess der Weitergabe selber’ (Hejl 2001: 24), […] sowie auch die Erzeugnisse, die mit Hilfe jenes Wissens und jener Fertigkeiten her­gestellt wurden“ (Karl 2004b, 7). Kulturati­onsprozesse wären in diesem Sinne also alle sozialen Lernprozesse sowie deren materi­eller und immaterieller Niederschlag. Weil diese Definition den Einfluss natürlicher Fak­toren bzw. universeller Gesetzmäßigkeiten auf soziale Lernprozesse nicht a priori aus­schließt, sollte damit keine übermäßig rigi­de Einschränkung der Wissenschaft einher­gehen. Dennoch bevorzuge ich eine Defini­tion, die alles beinhaltet, was mit keltischen Kulturen in direktem oder indirektem Bezug steht.

Schwerwiegender ist die Bestimmung der keltischen Archäologie als idiographische und explizit nicht nomothetische Disziplin (Urban 2007, 596). Eine Selbstbeschrän­kung auf eine Beschreibung der Realitäten unter einem per definitionem getroffenen Verzicht auf die Suche nach Gesetzmäßig­keiten in unserem Quellenmaterial stellt meiner Ansicht nach eine unzulässige Ein­schränkung der archäologischen Wissen­schaften dar. Die Ansicht, die historischen Wissenschaften, denen Urban (ebd. 597) die keltische Archäologie zuordnet, seien notwendigerweise idiographisch, beruht auf dem Standpunkt, dass Menschen sich nicht gemäß Gesetzmäßigkeiten verhalten könnten, weil (Natur-)Gesetze absolute Regeln wären, die mit dem „freien Willen“ des Menschen nicht vereinbar seien. Nach­dem diese Ansicht nachweislich falsch ist (siehe z. B. Buchanan 2001; 2003), kön­nen und dürfen nomothethische Fragestel­lungen für die keltische Archäologie nicht a priori ausgeschlossen werden. Dabei bleibt es Urban überlassen, sein Interesse auf den idiographischen Aspekt der kel­tischen Archäologie zu konzentrieren: Die Beschreibung historischer und damit unter individueller Betrachtung auch einzigartiger Phänomene ist ein unverzichtbarer Bestand­teil einer jeden Wissenschaft, in der Zeit und damit historische Prozesse von Bedeutung sind. Zu diesen zählt die keltische Archäolo­gie zweifellos auch.

Dies begründet jedoch keineswegs eine Notwendigkeit, sich hauptsächlich oder gar ausschließlich auf eine solche Beschreibung historischer Prozesse zu beschränken. Ganz im Gegenteil, die moderne Archäologie baut zu einem nicht geringen Ausmaß auf archäologischen bzw. historischen Natur­gesetzen auf. Als Beispiel sei hier nur der auch von Urban (2007, 604) selbst ange­führte Terminus post quem genannt: Dass der frühestmögliche Zeitpunkt der Entste­hung eines ungestörten archäologischen Kontextes durch den Beginn der Produkti­onszeit des „jüngsten“ in ihm enthaltenen Fundes datiert wird, ist ein archäologisches Naturgesetz, das universell gültig ist. Auch befasst sich die Archäologie ganz allgemein häufig mit Klassen von Objekten, Befun­den etc. und beschreibt diese in Form von Typologien in generalisierender Weise, eine Vorgehensweise, die eher der Nomothetik denn der den Einzelfall beschreibenden Idiographie zuzurechnen ist. Ebenso sind die zunehmend in Verwendung stehen­den quantitativen Methoden ebenfalls eher nomothetische Verfahren. Sollte die Bestim­mung als idiographische Wissenschaft also mehr als eine Tautologie für die bereits davor getroffene Bestimmung der kel­tischen Archäologie als Geisteswissenschaft sein (ebd. 596), wäre dies eine unzulässige Beschränkung archäologischer Forschung.

Ähnlich problematisch ist die Beschränkung der keltischen Archäologie auf bestimmte Quellen (ebd. 595–6), und zwar gleich in zweierlei Hinsicht. Dies betrifft zum einen Urbans ausschließliche Beschränkung auf die antiken Kelten (ebd. 595). Damit wer­den wesentliche Zeiten und Räume, in der von der Keltologie als ebenfalls „keltisch“ betrachtete Bevölkerungen archäologische Niederschläge erzeugt haben, willkürlich und unbegründet aus dem Forschungs­gebiet der keltischen Archäologie ausge­schlossen. Dies gilt z. B. für die Mittelal­ter- und Neuzeitarchäologie keltischspra­chiger Bevölkerungen auf den britischen Inseln, dem europäischen Kontinent und in der modernen keltischen „Diaspora“. Es ist verständlich, dass diese Zeit-Räume für Urban, dessen Forschungsschwerpunkt in der mitteleuropäischen Eisenzeit liegt, nicht im Zentrum des Interesses stehen. Nichts­destotrotz dürfen sie von einer keltischen Archäologie, die sich auch als Teilgebiet der Keltologie versteht (ebd. 597), nicht beisei­te gelassen werden.

Auch Urbans (2007, 595) Bestimmung des­sen, was er unter den antiken Kelten ver­steht, ist problematisch, ganz besonders im Zusammenhang mit seinen späteren Aus­führungen zur keltischen Ethnogenese (ebd. 604–7). Sowohl seine Beschränkung auf die „Keltoi und Galli gleichberechtigt mit ihren jeweiligen Teilstämmen und Untergruppen bzw. Einzelpersonen“ (ebd. 595; vgl.. Karl in Vorb.) als auch auf durch schriftliche Quel­len belegbare Gruppen unter Ausschluss der durch die historischen Sprachwissen­schaften durch Rekonstruktion erschlos­senen keltischen Sprachräume reduzieren die keltische Archäologie weiter bzw. füh­ren zu einer enorm inkonsistenten Definiti­on ihres Forschungsgebiets. Legt man diese Beschränkungen nämlich nicht unzulässig locker an, kann vor dem 2. Jh. v. Chr., außer vielleicht in Norditalien, kaum seriös von einer „keltischen Archäologie“ gesprochen werden, weil die historischen Quellen und epigraphischen Zeugnisse mit wenigen Aus­nahmen viel zu unspezifisch sind, um eine Lokalisierung der durch schriftliche Quellen belegten Gruppen vorzunehmen. Legt man die Beschränkungen hingegen sehr locker an, schließt man große Raum-Zeit-Gebiete ein, für die keinerlei historische und/oder epigraphische Evidenzen einen tatsäch­lichen „Keltenbezug“ der archäologischen Beobachtungen wahrscheinlich machen.

Es ist nicht zu erkennen welcher Nutzen, sei er erkenntnistheoretischer, methodischer oder praktischer Natur, aus dieser sehr engen Definition bzw. Quellenbeschrän­kung zu gewinnen ist.

Ein weiteres Problem findet sich bei den erkenntnistheoretischen Bemerkungen Urbans. Urban (2007, 596) nennt den von ihm vertretenen Ansatz eine „postkonstruk­tivistische Archäologie“. Nun bin ich selbst bekanntermaßen ein Vertreter einer radi­kal konstruktivistischen Position (vgl. Karl 2004a; b; c; 2005; 2006; 2007a; b), habe also prinzipiell keineswegs ein Problem mit der Idee, dass eine Methode der kel­tischen Archäologie auf einer konstruktivis­tischen Epistemologie aufbauen soll. Urban gebraucht diese Epistemologie jedoch in irreführender Weise.

Zuerst zum Postkonstruktivismus selbst: Gewöhnlich implizieren in der Wissen­schaftstheorie Begriffe, denen das Prä­fix „Post-“ vorangestellt ist, dass es sich dabei um eine Denkrichtung handelt, die eine andere, die mit dem unmodifizierten Begriff selbst bezeichnet wird, ablösen oder überwinden will bzw. abgelöst oder über­wunden hat. So z. B. wird der Postprozes­sualismus in der Archäologie gewöhnlich als Abwendung von und Überwindung des vorhergehenden Prozessualismus betrach­tet; dasselbe Verhältnis besteht zwischen Poststrukturalismus und Strukturalismus, und natürlich gilt dies ganz besonders auch für die Postmoderne selbst, die als Ablö­sung der Moderne verstanden wird. Im Postkonstruktivismus eines Michael Lynch (1993), Joseph Rouse (1996) und Peter Wehling (2006) geht es ebenfalls um eine solche Ablösung bzw. Überwindung, näm­lich primär der Dichotomie zwischen einem „klassischen“ sozialen Konstruktivismus (der wiederum nur einige Überschneidungen mit dem radikalen Konstruktivismus besitzt) und einem „traditionellen“ Realismus. Die Verkürzung von „postmodernem Konstruk­tivismus“ auf „Postkonstruktivismus“, wie sie Urban (2007, 596) vornimmt, hat jedoch nicht das Mindeste mit diesem bereits eta­blierten Postkonstruktivismus zu tun. Der von Urban offenbar als eigene Wortneu­schöpfung verstandene, jedoch nicht als solche gekennzeichnete Begriff trägt also eher zur Verwirrung als zur Klärung seiner erkenntnistheoretischen Grundposition bei.

Verbreitung mutmaßlicher aus keltischen Sprachen stammender Ortsnamen in antiken Quellen (adaptiert von Sims-Williams 2006, map 11.1)

Noch problematischer ist jedoch die zur Definition des Begriffs (ebd. FN4) vorge­nommene Relativierung der angeblich radikal konstruktivistischen Position (Watz­lawick 1981; von Glasersfeld 1996), im Rahmen einer postmodernen Wissenschaft seien Aussagen nicht von allgemeiner Gül­tigkeit, sondern jeweils raum- und zeitspe­zifisch und mentalitätsabhängig. Die so vorgenommene „Gegenüberstellung“ von radikal konstruktivistischer und „postmo­derner“ Position impliziert, dass Urban einen Gegensatz zwischen einer auf allgemeingül­tige Aussagen abzielenden radikal konstruk­tivistischen und einer postmodernen Denk­schule sieht, die derartige allgemeingültige Aussagen ablehne – ein Widerspruch, der durch die Synthetisierung dieser beiden Den­krichtungen zu einem „postkonstruktivis­tischen“ Ansatz wohl überwunden werden soll. Nun ist es jedoch so, dass der radikale Konstruktivismus als in der relativistischen bzw. skeptischen Tradition verankerte Epi­stemologie ohnehin nicht die Behauptung aufstellt, wissenschaftliche Aussagen wären notwendigerweise von allgemeiner Gül­tigkeit. Vielmehr ist das zentrale Kriterium radikal konstruktivistischer Epistemologie die Viabilität von wissenschaftlichen Aussa­gen (von Glasersfeld 1992, 18-31), d. h. die Widerspruchslosigkeit zwischen Realitäts­beobachtung und ihrer Erklärung. Mittels dieses Kriteriums können sowohl Aussagen von allgemeiner Gültigkeit, wie z. B. in der Physik über Naturgesetze, als auch Aussa­gen mit zeit- oder raumspezifisch charak­teristisch einzigartigen Eigenschaften, also z. B. idiographische historische Aussagen, gemacht werden. Weil der radikale Kon­struktivismus ganz allgemein die Erkenntnis im einzelnen, subjektiven Beobachter ver­ankert (von Glasersfeld 1996) und nicht in einem weiteren wissenschaftlichen Diskurs (dieser wird nur als Viabilitätsprüfung zwei­ter Ordnung verstanden), sind in einer radi­kal konstruktivistischen Sichtweise ohnehin alle wissenschaftlichen Erkenntnisse not­wendigerweise auch „raumzeitspezifisch“ und „mentalitätsabhängig“. Ein Gegensatz zwischen einer radikal konstruktivistischen und einer postmodernen Sicht- oder Erklä­rungsweise besteht also nicht. Urbans Wortneuschöpfung ist demnach nicht nur verwirrend, sondern ihre Definition auch redundant und zeugt von mangelndem Ver­ständnis der epistemologischen Grundposi­tion, auf die sich die vorgestellte Methodik vorgeblich stützt.

Diese Beobachtung findet sich im weiteren Text dadurch bestätigt, dass mit Ausnahme des häufig verwendeten Wortes „Konstrukt“ keinerlei Berücksichtigung radikal konstruk­tivistischer Grundpositionen festzustellen ist, sondern durchgehend eine positivistische Position vertreten und positivistische Ter­minologie verwendet wird. Das wohl deut­lichste Beispiel dafür ist im Unterkapitel „5. Verifikation des Konstruktes ‚Keltisch’“ (ebd. 600) anzutreffen. Die „Verifikation“ des Konstrukts „keltisch“ wird von Urban durch positive Bestätigung vorgenommen: Auf seiner „ersten Ebene“ erfolgt diese mittels direkter Bestimmung durch epigraphische Quellen. Auf der „zweiten Ebene“ müsse die direkte Raum-Zeit-Übereinstimmung mit den Ergebnissen von Nachbarwissen­schaften (z. B. Alte Geschichte, Historische Geografie etc.) vorliegen. Auf der dritten Ebene gelinge die „Verifikation“ durch zeit­gleiche archäologische Analogien „mit veri­fizierten archäologischen Quellen, der 1. und 2. Ebene“ (ebd.). Das ist eine klassisch positivistische Vorgehensweise, ein rein induktiver Schluss, unter Verwendung klas­sisch positivistischer Terminologie. Keine der „Verifikationen“ Urbans kann durch Wahrnehmungen auf derselben oder einer anderen Ebene als nicht passend erwiesen werden: Wird etwa eine archäologische Quelle durch epigraphische Quellen als keltisch angesprochen, ist diese Ansprache notwendigerweise wahr. Stimmt ein archä­ologisches Raum-Zeit-Konstrukt mit einem als „keltisch“ angesprochenen Raum-Zeit-Konstrukt einer Nachbardisziplin überein, ist diese Ansprache ebenfalls notwendi­gerweise wahr. Und stimmt eine archäolo­gische Beobachtung mit einer anderen als „keltisch“ angesprochenen archäologischen Beobachtung überein, so ist die Ansprache der neuen Beobachtung als „keltisch“ eben­falls notwendigerweise wahr. Urbans Formel lautet also letztendlich: Neue Beobachtung plus positiver Beweis von „Keltizität“ ist gleich Bestimmung der neuen Beobach­tung als ebenfalls „keltisch“.

So kommt es auch, dass er auf seiner „drit­ten Ebene“ der „Verifikation“ des „Kon­strukts ‚keltisch’“, die Gleichzeitigkeit von Analogien verlangt: „eine rückwärts gerich­tete Verfolgung einzelner Elemente, welche die genetische Basis späterer Entwicklungen dar­stellt, wird abgelehnt, da einzelne Elemente nicht in direktem Zusammenhang mit einer Keltizität stehen. […] In Zeitabschnitten, wo unzweifelhaft Kelten historisch überliefert sind, ist dagegen eine Identifizierung mit archäolo­gischem Fundmaterial durchaus möglich und sinnvoll.“ (ebd.). „Keltizität“ ist für Urban also nur dort bestimmbar, wo ein positiver Beweis geführt werden kann, dass es Kelten gegeben hat – schlussendlich geht es Urban also darum, eine isomorphe Übereinstim­mung zwischen antiker Realität und moder­ner Bestimmung, eine Übereinstimmung zwischen dem Ding und dem ihm entspre­chenden Wort zu erzielen. Dies hat jedoch mit radikalem Konstruktivismus nichts zu tun, ja es ist sogar das diametrale Gegenteil der radikal konstruktivistischen Grundan­nahme, dass eine isomorphe Übereinstim­mung zwischen ontischer Wirklichkeit und subjektivem Konstrukt des Beobachters (und damit dem für ein Ding verwendeten Wort) aus epistemologischen Gründen unmöglich ist (von Glasersfeld 1992, 18–37).

 

Die Methode der keltischen Archä­ologie?

Ein ebenso gravierendes Problem von Urbans Methode ist, dass sie mehr oder min­der deutlich als die Methodik (als Gesamt­heit der Methoden einer Wissenschaft zu verstehen) der keltischen Archäologie bezeichnet und nicht nur als eine von meh­reren möglichen Methoden der keltischen Archäologie dargestellt wird. Dies erscheint mir jedoch eher als Versuch, der Forschung eine bestimmte, ideologisch bedingte pro­grammatische Richtung vorzuschreiben, aufbauend auf einer streng positivistischen Epistemologie, denn als Versuch, eine dem allgemeinen Erkenntnisgewinn dienende Basis für archäologische Interpretationen zu schaffen. Dagegen verfügt die moderne Archäologie über einen breiten Kanon an Theorien und Methoden, der auch bereits in Einführungswerken verschiedenster Art (z. B. Bernbeck 1997; Eggert 2001; Johnson 1999; Renfrew/Bahn 1991) leicht zugäng­lich zusammengestellt wurde. Eine keltische Archäologie unterscheidet sich in den ihr zur Verfügung stehenden Theorien und Metho­den nicht von anderen Archäologien. Es erscheint daher auch nicht zielführend, eine konkrete Methodik der keltischen Archäo­logie festschreiben zu wollen, die sich von einer allgemeinen Methodik der Archäologie unterscheiden ließe. Meiner Ansicht nach bedeutend wichtiger ist die Ausarbeitung einer „interdisziplinären“ keltologischen Methodik. Sie erlaubt Fragestellungen, zu deren Beantwortung die Heranziehung der verschiedenen, der Keltologie zur Verfügung stehenden Quellengattungen notwendig ist (vgl. Karl 2003; 2004a; 2006; 2007a; b). Hier ist jedoch ein verständnisvolles und offenes Aufeinanderzugehen der verschie­denen keltologischen Teildisziplinen nötig und nicht das Abstecken von methodisch verbrämten Ansprüchen auf die alleinigen Auswertungsrechte der Quellen aus einem bestimmten Teilgebiet der Keltologie.

 

Zu Urbans „Keltengenese“

Wohl als Fallbeispiel für die Anwendung der vorgeschlagenen Methode folgt in Urbans Beitrag ein „Modell“ der „Keltengenese“ (Urban 2007, 604–7). Dadurch wird es möglich, methodischen Anspruch und Rea­lität der Anwendung zu vergleichen. Zu bedenken ist, dass auf Grund von Platzbe­schränkungen eine detaillierte Darstellung sicherlich schwierig, wenn nicht unmöglich gewesen ist. Daher ist eine gewisse Skizzen­haftigkeit der Darstellung verständlich. Es ist aber dennoch gerade dieser Abschnitt von Urbans Beitrag, der mit den größten Proble­men behaftet ist.

Leider ignoriert Urban bei der Entwick­lung eines eigenständigen „Modells der Keltengenese“ seine eigene einleitende methodische Feststellung („Am Anfang jeg­licher Methode stehen – insbesondere in der Tradition deutschsprachiger Wissenschaften – Definitionen bzw. Worterklärungen, welche den Rahmen abstecken sollen.“, ebd. 595) und lässt den Kernbegriff Ethnos stattdes­sen undefiniert. Dies stellt ein gravierendes Problem dar, denn er setzt sich weder mit der jüngeren Literatur auseinander, die die keltische Ethnizität eisenzeitlicher Bevölke­rungen Europas in Abrede gestellt hat (z. B. Chapman 1992; Collis 1994; 2003; James 1999; Karl 2004b), noch verweist er auf andere Literatur, aus der sich bestimmen lässt, was er mit „keltischem Ethnos“ meint. Sollte es keine gemeinkeltische Ethnizität gegeben haben, wie die Kritiker meinen, dann kann es auch nicht zu einer keltischen Ethnogenese gekommen sein (vgl. Pauli 1980). Eine Begründung, warum die Kriti­ker einer gemeinkeltischen Ethnizität nicht Recht haben, wäre das Mindeste, was in die­sem Fall zu erwarten wäre. Fühlt man sich hingegen von diesen Kritiken nicht betrof­fen, weil man unter dem Begriff Ethnos etwas anderes als ein modernes Synonym für das Wort „Volk“ versteht, wäre eine Defi­nition dieses Begriffes notwendig. Da Urban (2007, 600) den Keltenbegriff eindeutig auch als nicht mit einer bestimmten archä­ologischen Kultur gleichgesetzt verstanden wissen will, fällt auch diese mögliche Bedeu­tung des Ethnosbegriffs aus.

Im weiteren gehe ich davon aus, dass der Ethnosbegriff von Urban als unbestimmter Terminus für eine nicht näher definierte Menschengruppe veränderlichen Charak­ters verstanden und verwendet wird.

 

Urbans „ursprüngliche Kelten“

Urban (2007, 604–7) baut in weiterer Folge sein Modell der Keltengenese nahezu aus­schließlich auf historischen und sprach­wissenschaftlichen Überlegungen auf, die Archäologie spielt praktisch überhaupt keine Rolle. Dies wirft die Frage auf, wie sein Modell mit der zuvor (ebd. 595–604) vorge­stellten Methodik zusammenpasst.

Urbans Überlegungen setzen bei der Nen­nung der Kelten bei Herodot (II, 33,3 bzw. IV, 49) an. Als wahrscheinliche Quelle für Herodots Bericht, der die Kelten mal als am Ursprung der Donau, mal als jenseits der Säulen des Herakles lebend beschreibt, nennt Urban (2007, 604) einen verlorenen griechischen Períplus, den er auf spätestens 540 v. Chr. datiert. Er stellt in diesem Zusam­menhang jedoch die Vermutung an, dass er bedeutend älter sein und aus dem 7. oder sogar 8. Jh. v. Chr. stammen könnte. Die­sem Períplus oder Herodot selbst – Urban (ebd. 605) ist hier nicht eindeutig – lagen angeblich wiederum zwei unabhängige Quellen zu Grunde, bei denen es sich um Händler bzw. Bootsfahrer gehandelt haben soll. Darauf baut Urban (ebd. 605–6) ein Kontaktszenario auf, das erklären soll, wie Herodot „zu den Kelten kam“.

Urban (ebd. 605) betrachtet augenschein­lich die beiden Textpassagen als Evidenz für eine gleich lautende Selbstbenennung einer Menschengruppe, die sowohl am Atlantik als auch am Ursprung der Donau lebte. Tatsächlich ist jedoch weder geklärt, dass es sich beim Begriff „Kelten“ tatsäch­lich um eine Selbstbezeichnung handelt, noch dass es sich bei den „Kelten“ an Atlantikküste und Donau im oder vor dem 6. Jh. v. Chr. überhaupt um ein und diesel­be Menschengruppe gehandelt hat. Auch der von ihm angeführte Bericht Caesars (b.g. I, 1.1), sie würden „in ihrer eigenen Sprache Kelten“ genannt, bedeutet nicht, dass es sich um eine ursprüngliche Selbst­benennung handelt, wie Urban annimmt. Eine etwaige Fremdbenennung im oder sogar vor dem 6. Jh. v. Chr. kann theoretisch 500 oder mehr Jahre später durchaus von bestimmten Bevölkerungen in Westeuropa als Selbstbenennung übernommen worden sein. Bei Urbans Annahme, „Kelten“ sei die Selbstbezeichnung einer einzelnen Bevöl­kerungsgruppe, die im oder vor dem 6. Jh. v. Chr. im Raum zwischen der Atlantikküste und der Donau lebte, handelt es sich also weitgehend um eine Setzung.

Urban stellt nun die Frage, von wem diese Selbstbenennung stammen könnte, und beantwortet sie auch gleich: „Wohl von dem Personenkreis, mit dem die Händler und Schiffer in direkten Kontakt gekommen sind“ (Urban 2007, 605). „Wer seid ihr? Kelten – Keltoi, wenn die Unterhaltung in Griechisch stattgefunden hat“ (ebd.), stellt sich Urban diese Unterhaltung vor. Historische, ethno­grafische oder sonstige Analogien, die einen derartigen Ablauf eines Erst- oder Frühkon­taktszenarios wahrscheinlich machen, führt er nicht an. Er fragt stattdessen weiter: „Doch wer gibt einer Gemeinschaft damals im 6., vielleicht sogar 7. oder 8. Jahrhundert – wir wissen es nicht genau – ihren Namen?“ (ebd.) um auch diese Frage selbst mit „Angehöri­gen der Oberschicht, der Eliten“ (ebd.) zu beantworten. Diese spezifiziert er weiter als Druiden, denn diese seien laut Caesar (wobei er den Sprung um ein halbes Jahr­tausend oder mehr explizit als mögliches Problem nennt) die einzige gesellschaftliche Gruppe, die über direkte und regelmäßige Fernkontakte verfügt hätten. Migrationen größerer Bevölkerungsteile (u. a. als Söld­ner) vernachlässigt er dabei ebenso wie die offensichtliche Mobilität des gallischen Adels (erwähnt sei hier nur als Beispiel des Ehebündnisses, das der norische König Voc­cio mittels Vermählung seiner Schwester mit dem in Gallien befindlichen, aber ursprüng­lich aus „Germanien“ stammenden Ariovist eingegangen ist; b.g. I, 53.4). Stattdessen führt er fort, dass er den Stand der Druiden, die ja „ihre langjährige Ausbildung in spezi­ellen Zentren oft weit abseits des eigentlichen Stammesgefüges erhalten haben und sich danach in periodischen Abständen trafen, als historisch überliefertes Modell einer führen­den Gesellschaftsschicht verstehen“ möchte, „welcher zwischen weit verstreuten Stämmen eine ‚scheinbar gemeinsame Wurzel’ vermit­teln könnte.“ (Urban 2007, 605).

Nach einem kurzen Verweis auf die Wir­kung christlicher Missionare (ebd.) nennt Urban nun seine These explizit: Die bei Herodot überlieferten Hinweise auf Kelten am Atlantik und der oberen Donau seien auf den späteren Druiden ähnliche Eliten, die eine gemeinsame Ausbildung genossen und eine ähnliche Weltanschauung vertre­ten hätten, zurückzuführen. Er wendet sich nun der gemeinhin als ungeklärt erachteten Etymologie des Keltennamens zu und hält fest, dass nicht entschieden werden könne, ob dieser einen Hinweis auf die Topografie der Lehrstätte oder den Ritus der Aufnahme geben könne, beides wäre jedoch denkbar: Der Name „Keltoi“ werde zumeist Helmut Birkhan (1997, 47) zufolge auf idg. kel-l, „ragen, hoch“ zurückgeführt, entspräche keltí, „emporheben“, was auf die Form der Inthronisierung bzw. Aufnahme in die Elite oder auch auf den Platz der „Hochschule“ hinweisen könnte (Urban 2007, 605). Zwar sei die Lokalisierung dieser ursprünglichen „Keltenhochschule“ unbekannt, wahrschein­lich liege sie jedoch dort, wo der vorkeltische Sprachdialekt seine Wurzeln habe, vielleicht in Südostfrankreich im Hinterland der ionis­chen Kolonien. Denn sein Modell sieht vor, dass dieser regionale Dialekt durch die Adep­ten als Ritualsprache in ihre jeweilige Heimat übertragen worden sei, wo sie nicht nur der Gemeinschaft, sondern auch den Flüssen ihren Namen gegeben hätten (ebd.). In den Herkunftsgebieten der Adepten der „Kel­tenhochschule“ habe sich dann der Ritual­dialekt in unterschiedlichen Sprachräumen weiter ausgebildet und würde so später in erster Linie in den Orts-, Gewässer- und Per­sonennamen fassbar (ebd. 605–6).

Aus diesen Überlegungen leitet Urban fol­gende Schlussfolgerung ab: „Die beiden Textpassagen bei Herodot sind daher meines Erachtens noch kein Hinweis auf eine bereits abgeschlossene Ethnogenese der Kelten, son­dern dürften aus der Anfangsphase dieses historischen Prozesses stammen“ (ebd. 606, Hervorhebung RK). Es ist ihm insofern Recht zu geben, als sich aus seinem Narrativ kein Anhaltspunkt ergibt, eine keltische Ethno­genese wäre im 8. oder 7. Jh. v. Chr. bereits abgeschlossen gewesen. Tatsächlich lassen sich aus den von Urban zur Untermauerung seiner fantastischen Erzählung herangezo­genen Evidenzen – zwei kurze und äußerst unklare Stellen bei Herodot und eine mög­liche Deutung der an sich unklaren Etymolo­gie des Keltennamens – praktisch überhaupt keine Datierungen für irgendetwas ableiten: Sollte eine keltische Ethnogenese überhaupt stattgefunden haben, so könnte das nach Urbans „Modell“ genauso gut im 27. wie im 2. Jh. v. Chr. stattgefunden haben. Das wussten wir aber auch schon vor und unab­hängig von Urbans Modell, das uns auch über das Wann, das Wo, das Wie und vor allem das Warum der Entstehung dieser sich selbst als „Kelten“ bezeichnenden Bevölke­rungsgruppe keinerlei neuen Erkenntnisse bringt.

 

Urbans „erste keltische Stämme“

 Urban (2007, 606–7) ergänzt sein Modell um Kontakte zwischen der griechischen Welt und den Kelten im 7./6. Jh. v. Chr. An dieser Stelle wendet er sich der Nennung der Kelten an der oberen Donau bei Herodot und zum ersten Mal auch archäologischen Hinweisen zu. Griechische Händler, so argumentiert er auf Basis des Mangels griechischer Importe entlang der mittleren Donau, seien dieser nicht bis an den Oberlauf gefolgt; wie die klassischen Verbreitungskarten von Ampho­ren zeigen würden, sei der obere Donau­raum eindeutig über die Rhône und die bur­gundische Pforte mit griechischem Import versorgt worden. Daher sei es auch nicht unwahrscheinlich, dass Herodot eine Fluss­beschreibung ähnlich jener, die etwa ein Jahrhundert später Apollonios von Rhodos als Vorlage für die Rückfahrt der Argonauten diente, herangezogen habe. Vom schwar­zen Meer kommend folgten die Argonauten der Donau und dann der Drau bzw. Save flussaufwärts und erreichten von dort (in manchen Versionen über Land) die Adria. Von hier aus folgten sie dem Po und stießen an einem See, der eine Vermengung von Garda-, Genfer und Bodensee sein könnte, auf keltische Stämme. Von dort aus konn­ten sie dann die Rhône abwärts fahren (ebd. 606). Wie aus der sagenhaften Darstellung der Argonautenfahrt durch Apollonios von Rhodos auf Herodots Vorstellung von der Donau rückgeschlossen werden kann, wird nicht erklärt. Daraus leitet Urban nun aber die These ab, dass sich auch Herodots Beschreibung von Kelten an der oberen Donau nicht auf den Raum nördlich, son­dern vielmehr auf jenen südlich der Alpen beziehen würde, bis wohin griechische Importe gelangt seien. In diesem Raum sei es vor allem das Gebiet um den Garda-See, das sich für Herodots Lokalisierung der Donauquellen anbiete. In diesem Gebiet tauchten im 6. Jh. v. Chr. auch erstmals keltische Grabinschriften auf, nämlich die lepontischen Inschriften, die nach Birkhan (1997, 312 Anm. 31) aus linguistischer Sicht als Protokeltisch angesprochen würden.

Wieder folgt daraus eine Schlussfolgerung Urbans, deren Bezug zum vorhergehenden Scheinargument nicht erkennbar ist: „Archä­ologisch bietet die hallstättische Welt mit ihren zahlreichen und archäologisch in ihrer Vielfäl­tigkeit nicht klar rekonstruierbaren ‚Fürsten­sitzen‘ eine günstige Voraussetzung für den Zusammenschluss von kleineren Verbänden – dem sogenannten ‚Gesetz der wachsenden Größe ethnischer Einheiten‘ nach R. Wenskus (1961, 145) folgend – zu Stämmen“ (Urban 2007, 607). Urban zeigt also zuerst, dass die bei Herodot zu findende Keltennennung an der oberen Donau sich eigentlich gar nicht auf die obere Donau beziehe, um danach zu dem Schluss zu kommen, dass an der oberen Donau hervorragende Bedingungen für die Ausbildung keltischer Stämme geherrscht hätten. Wo bei alledem der Zusammenhang mit den quasidruidischen Kelteneliten des 8./7. Jh. v. Chr. zu finden ist, die im vorigen Kapitel über die „ursprünglichen Kelten“ noch der Motor der beginnenden Keltene­thnogenese waren, ist nicht zu erkennen.

 

Urbans „Abschluss der keltischen Ethno­genese“ und ihre Folgen

 Urban (2007, 607) bringt sein „Modell der keltischen Ethnogenese“ mit der einfachen Feststellung, die Ethnogenese der keltischen Stämme sei im 5. Jh. v. Chr. vollzogen und eine größere Einheit entstanden, zu einem raschen Abschluss. Diese größere Einheit drücke sich im semiotischen Sinn in der „Bildsprache“ der Frühlatènekultur aus, die von Gallien im Westen bis zum Karpaten­raum im Osten reiche: „Wann sich der zuerst wohl nur von wenigen als Kultsprache verwen­dete regionale Dialekt allgemein durchgesetzt hat, muss von anderer Seite beantwortet wer­den“ (ebd. 607). Der abgeschlossenen „Eth­nogenese“ der „Kelten“, die sich entgegen den vorher in seiner Methode gemachten Bemerkungen (ebd. 600) nun offenbar doch mit der Latènekultur identifizieren lie­ßen, folge deren Ausbreitung im 4. und 3. Jh. v. Chr. im Wege der historisch überlie­ferten Keltenwanderungen, die sie nach Ita­lien, auf den Balkan, die iberische Halbinsel und die britischen Inseln gebracht hätten. Gleichzeitig würden sich nun regionale kel­tische Sprachgruppen mit unterschiedlichen Dialekten entwickeln. Die Kelten, so Urban (2007, 607), befänden sich zu dieser Zeit in ihrer Ausbreitungsphase.

Damit sind wir beim „traditionellen“ Modell der „Ethnogenese der Kelten“ angelangt: Die durch eine gemeinsame Sprache gekenn­zeichneten „Kelten“, Träger der Latèneku­ltur (ebd. 607), die nicht nur intern durch gleiche Merkmale charakterisiert, sondern auch scharf von anderen archäologischen Kulturen abgegrenzt sei (ebd. 599), besit­zen ihren Ursprung in Mitteleuropa und breiten sich von dort durch Wanderungs­bewegungen in alle Richtungen über halb Europa aus (ebd. 607).

Man sollte denken, dass im frühen 21. Jh. n. Chr. dank der hauptsächlich in den letzten beiden Jahrzehnten geführten Argumente gegen dieses Keltenkonzept und gegen dieses „Modell der keltischen Ethnogenese“ (z. B. Chapman 1992; Collis 1994; 2003; James 1999; Karl 2004b) ein solches Modell nicht mehr als innovatives Konzept vorge­stellt werden könnte. Doch Urban schreibt zu dem von ihm vorgestellten „Modell“ wörtlich: „Ich möchte nochmals darauf hin­weisen, dass die oben ausgeführten Überle­gungen nur ein theoretisches Modell, eine These sind, welches versucht alle Parameter zu berücksichtigen; es ist meines Erachtens stim­mig, aber noch nicht bestätigt (verifiziert). Als nächstes müssen Konstrukte entworfen wer­den, die eine Überprüfung der Thesen ermög­lichen.“ (ebd. 607).

Darauf kann man eigentlich nur mehr ant­worten: Die These wurde überprüft und für mangelhaft befunden, das Modell ist im Wesentlichen widerlegt und neue Argu­mente werden durch Urbans Ausführungen auch nicht in die Diskussion eingebracht.

 

Die weitere Bedeutung von Urbans „Modell der Keltengenese“

Die aufgezeigten Fehler stellen keine einma­lige Erscheinung dar, sondern sind meines Erachtens Symptome zweier grundlegender Probleme der österreichischen Archäologie. Dass diese Probleme sich ganz besonders offensichtlich in einem Artikel über wissen­schaftliche Methodenlehre zeigen, bei dem man eigentlich besonders sorgfältige Über­legung und Recherche erwarten würde, macht deutlich, wie tief verwurzelt sie sind.

Das erste Problem betrifft die trotz aller Beteuerungen des Gegenteils (Urban 1996, 11) ungebrochene Verwendung der eth­nischen Interpretation im Sinne Kossin­nas, wie sie wohl am deutlichsten im Satz „Scharf umgrenzte archäologische Kulturpro­vinzen decken sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern und Volksstämmen“ (Kossinna 1920, 3) Ausdruck findet. Die Ablehnung der siedlungsarchäologischen Methode Kossinnas (Urban 2007, 600) ist rein oberflächlich. Durch die Einführung des Begriffs „Ethnos“ für das, was bei Kossinna noch Volk heißt, ist nichts gewonnen (Karl 2004b); die moderne Ethnizitätsdiskussion in der Keltologie und anderen Kulturwis­senschaften wurde entweder nicht wahr­genommen oder nicht verstanden. Der von Urban angestrebte Nachweis der Ethnoge­nese der Kelten am Beginn der Latèneku­ltur verschleiert die Tatsache, dass Urban letztlich in exakter Kopie der siedlungsar­chäologischen Methode Kossinnas zuerst die späte Latènekultur anhand historischer Zeugnisse als materiellen Ausdruck einer einheitlichen keltischen Ethnizität identi­fiziert hat und nun dieselbe Ethnizität bis zum archäologisch beobachtbaren Anfang dieses „archäologischen Kulturkreises“ in die letztendlich prähistorische Vergangen­heit zurückverfolgt.


Das zweite schon früher von mir kritisierte Symptom (Karl 2004c; 2005) ist der völlige Mangel an theoretischer Fundamentierung und methodischer Stringenz in der Deu­tung. Er zeigt sich durch ad hoc getroffene Interpretationen, die „auf dem gesunden Menschenverstand“ aufgebaut zu sein scheinen. Allerdings wird hier nicht erkannt, dass dadurch lediglich eigene Vorstellungen unsystematisch in die Vergangenheit proji­ziert werden. Dadurch kann es wie im vor­liegenden Beitrag Urbans dazu kommen, dass einander diametral entgegengesetzte Aussagen in demselben Text zu finden sind. Letztlich ersetzt der Glaube an die eigenen Interpretationen die Notwendigkeit einer logischen Gedankenkette, und die Anein­anderreihung nicht zusammenhängender Gedankengänge wird zur „systematischen Darstellung von kausalen Zusammenhän­gen“ (Urban 2007, 595).

Sowohl die fortgesetzte, unterschwellige Benutzung der Methode G. Kossinnas wie auch das Fehlen von theoretischer Funda­mentierung und methodischer Stringenz bei den archäologischen Interpretationen sind letztlich Ausdruck der fehlenden Refle­xion über die eigene Tätigkeit, wie sie wenigstens seit 1945 charakteristisch für die österreichische Ur- und Frühgeschichtsfor­schung ist (Karl 2004c; 2005).

 

Raimund Karl
School of History, Welsh History
and Archaeology
Bangor University
College Road, Bangor, Gwynedd LL57 2DG
Cymru, UK
r.karl@bangor.ac.uk

 

 

 

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